Literatur-TANDEM-letterario 2024
Kommentar von Jara Nassar

Das Literatur-TANDEM-letterario 2024 ist ein Stipendium für junge Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus Italien und Deutschland. Die AutorInnen haben eine Kurzgeschichte in ihrer Landessprache eingereicht. In einem deutsch/italienischen Tandem haben Sie die Kurzgeschichte des fremdsprachigen Partners in die eigene Landessprache übertragen.

Eines der sechs Tandems im Jahr 2024 sind Jara Nassar mit ihrer Erzählung Diese verdammte Idylle und Antonio Galetta mit seiner Erzählung Lacrime nuove. In ihrem Kommentar zur Übersetzung des Textes Lacrime nuove hat Jara Nassar geschrieben:

Mich interessierte schon immer das, was an den Grenzen geschieht. Wie liest man eine Geschichte aus Worten, die man nicht kennt? Wie lässt sich die Geschichte brechen, nicht nur in ihrer Sprache, sondern auch in ihrer Form? …
Doch der Prozess der Übersetzens wird unsichtbar gemacht: … kaum einer fragt den Übersetzer, welche Gedanken ihm zum Text kamen. Dies wollte ich mit meiner Übersetzung von Antonios Text aufbrechen. Ich übersetzte zuerst Stück für Stück, was ich in Anlehnung an andere Sprachen zu verstanden meinte. An vielen, aber nicht allen Stellen überprüfte ich die Übersetzung dann mithilfe von Wörterbüchern. Das Ganze ergänzte ich mit Anmerkungen, Teile anderer Texte, die mir einfielen, und Ausschnitten aus Wörterbüchern.

Hier ein kurzer Auszug der “Übersetzung” von Jara: Tocco altri tronchi, dann, lebendig im Halbschatten. Ich will sie umfassen/ergreifen/umarmen/mich an sie pressenes gibt tausend worte die alle nicht die geste zu beschreiben fähig sind, ma invece di stringerli stringeredrücken, verwandt mit strangle– to choke to death by compressing the throat with something, such as a hand or rope denke ich daran, wie ich da bambino, weit entfernt

Jara Nassar

Hier der ganze Kommentar von Jara Nassar

Mich interessierte schon immer das, was an den Grenzen geschieht. Wie liest man eine Geschichte aus Worten, die man nicht kennt? Wie lässt sich die Geschichte brechen, nicht nur in ihrer Sprache, sondern auch in ihrer Form?

Schreibende versuchen oft, jedes Detail ihrer Texte zu kontrollieren, doch Kunst lässt sich nicht festhalten. Wir geben unsere Texte aus der Hand, wenn wir sie dem Lesenden übergeben, wenn sie auf der Theaterbühne aufgeführt oder übersetzt werden. Doch der Prozess der Übersetzens wird unsichtbar gemacht: Wenige lesen das Theaterstück als Werk der Literatur, kaum einer fragt den Übersetzer, welche Gedanken ihm zum Text kamen. Dies wollte ich mit meiner Übersetzung von Antonios Text aufbrechen. Ich übersetzte zuerst Stück für Stück, was ich in Anlehnung an andere Sprachen zu verstanden meinte. An vielen, aber nicht allen Stellen überprüfte ich die Übersetzung dann mithilfe von Wörterbüchern. Das Ganze ergänzte ich mit Anmerkungen, Teile anderer Texte, die mir einfielen, und Ausschnitten aus Wörterbüchern.

Sprache ist Konstrukt. Neue Wörter kommen hinzu, alte fallen aus der Mode, die Benutzung verändert sich. Ebenso sind Nationalsprachen ein Konstrukt, welches nach Erfindung des Buchdrucks als Projekt zur Vereinigung der frisch erfundenen Nation dienen sollte. Die meisten Menschen in Europa verstehen mehr als nur ihre Muttersprache. Ich vertraue dem Publikum, dass sie mehr verstehen, als sie vielleicht zuerst vermuten.

Eine weitere Grenze ist das Mittelmeer, Sehnsuchtsort und Massengrab zugleich. In Antonios Großeltern Heimat Süditalien sterben die Olivenbäume an einem Bakterium, welches sie erstickt und ihre jahrhundertealten Stämme als verkohlte Überreste zurücklässt. In meiner Großeltern Heimat Libanon verbrennen die Olivenbäume unter Bombardierung von weißem Phosphor, welches selbst nach Tagen noch weiterbrennt. Die Erde wird vergiftet zurückgelassen. Als ich Antonio ein Foto von den fallenden Bomben zeigte, die sich wie weiße Finger Richtung Erde strecken, dachte er zuerst, es sei Wasser, das vom Himmel fällt.
Wir suchen alle, eine bessere Welt zu erschaffen, als die, die wir von unseren Großeltern bekamen.

Jara Nassar