“Was möchtest du mal werden, wenn du groß bist?” das fragte man einst den jungen Schüler… Forscher, Astronaut, ich werde die Tiger retten, ich weiß noch nicht….ach warte nein, eines weiß ich aber, ich möchte reisen, und viele Fremdsprachen lernen und sprechen.
Viele von uns verstehen schon ganz früh, dass sie schon in ihrem jungen Alter neugierig sind, die weite Welt kennenzulernen. Sie können ahnen, dass nur eine nationale Grenze, nur eine Sprache oder nur ein nationales Kulturerbe nicht genug sind, ihre Herzen und ihren Verstand zu definieren und zu begrenzen, und bestimmt auch nicht einzuschränken.
Dann kommen Familie und Erziehung hinzu, die Schule, Lehrer und unsere Freunde, und alles spielt in unserer (Aus)bildung eine ganz genaue Rolle: so entscheidet man, welche Bücher man lesen will und welche nicht, grandiose Ideen die uns zum Träumen bringen und Vorbilder, die unser Herz berühren oder die uns abstoßen.
Ganz langsam strukturieren diese unterschiedlichsten Lebenserfahrungen unsere Persönlichkeit. Wir zielen auf alles, was aus uns verantwortungsbewusste Eltern und gewissenhafte Lehrer, rechtschaffende und ehrliche Bürger macht, -kurz und gut- soziale und nicht egoistische Menschen.
Schon als Kind habe ich immer gespürt: Ich wollte Lehrerin werden. Ich konnte es nicht erwarten, schnell groß genug zu sein, um eben diesen Beruf wählen zu können. Nun habe ich eine 30-jährige Karriere hinter mir (Beginn: September 1987) und ich fühle mich wie Forrest Gump nach seinem langen Marathon durch Amerika. Ich möchte ihm so gern das berühmte Zitat vor den Journalisten stehlen: “Ehrlich gesagt……jetzt bin ich etwas müde”.
Die jungen Generationen machen heutzutage den Lehrern ihre Aufgaben immer schwieriger. Sie (ver)ändern sich schnell, viel schneller und wesentlicher als ihre Altersgenossen vor erst 5-10 Jahren. Uns Lehrern bleibt nichts anderes übrig, als viel Geduld zu zeigen und unseren Beruf immer klüger und schlauer zu verfeinern. Wir müssen uns schnell anpassen, damit sich der Marathon für alle Teilnehmer ehrwürdig erweist, und das nicht nur für Gewinner.Wenn ich manchmal auf meine Schüler wütend werde, versuche ich, mich mit diesem Gedanken zu beruhigen: Meine Eltern mussten leider den zweiten Weltkrieg erleben, mir wurde das dagegen erspart. Also……….. ich schaff das schon !!!
Ich komme aus Süditalien. Meine Stadt, Reggio Calabria, liegt an der Spitze des Stiefels vor Sizilien, nur die 3 km der “Meerenge von Messina” trennen uns von der Insel.
Mein Vater (Jahrgang 1931) studierte Jura eben in der nahegelegen Stadt Messina auf Sizilien, nicht weil er ein besonderes Interesse für diese Fakultät hatte, sondern weil das einfach die einzige Chance darstellte, eine Universität zu besuchen. Aus familiären Gründen war es nicht möglich, dass mein Vater auf bessere Universitäten, wie Rom, Bologna oder Mailand ging. Meine Mutter (Jahrgang 1936) hatte sechs Geschwister und einen “aufgeklärten” Vater, der bei der Italienischen Bahn arbeitete: Sie konnte wegen Geldmangels nicht studieren, sondern war nur Schülerin, und das war für eine Frau schon progressiv, im damaligen Kalabrien der 50ern. Ich dagegen bin 1960 geboren und konnte in Neapel Fremdsprachen studieren. Das hat meiner Familie bestimmt Mühen und Geld gekostet, aber die Universität in Neapel (500 km nördlich) hatte ein gewisses Prestige und mein lieber Papa wollte (wie schon mein Opa bei meiner Mama) das Bestmögliche für mich.
1979 habe ich im wunderschönen Dorf Rothenburg ob der Tauber in Bayern meine ersten 3 Monate im Ausland verbracht. Ich besuchte dort den ersten Deutschkurs im Goethe-Institut. In meiner Klasse hatte ich Mitschüler verschiedener Nationalitäten und Religionen aus Europa und aus der ganzen Welt. Schon vor dieser Reise fühlte ich mich als Hippy für den Melting-Pot bereit : ich war neugierig, ohne Vorurteile oder zu übertriebenen Begeisterungen, Differenzen oder Ähnlichkeiten unter Völkern theoretisch zu akzeptieren. Aber….wäre ich wirklich so geworden, wie ich jetzt bin, ohne diese erste Erfahrung im Ausland? Wäre ich heute noch dieselbe Person, wenn ich nicht alles persönlich und mit meinen Augen entdeckt, gesehen und erlebt hätte?
Deutschland und die deutsche Sprache, so geliebt und schwierig, haben für mich die neue, konkrete Chance dargestellt, Leute aus anderen europäischen und extra-europäischen Ländern kennenzulernen. Das war Deutschland: mit den ersten Bratwürsten und Pommes-Frites, dem ersten Apfelstrudel, und den echten Deutschen. Ordnung und Pünktlichkeit, die große Sauberkeit auf den Straßen, und alles, was zum deutschen Mythos gehörte, war da. Vor mir stand gleichzeitig trotzdem auch die Überwindung der klassischen Klischeen vom “Preußentum”, steife Disziplin, “Kühle”. Wo immer wir, ausländische Studenten auch gingen, wurden wir freundlich und nett mit einen Lächeln auf den Lippen empfangen.
Damals war ich rebellisch und idealistisch, und auf meine Heimat, Italien, nicht besonders stolz : das muss ich gestehen, ich schämte mich sogar, ein Italien im Ausland zu repräsentieren, dessen negatives Bild mit Wörtern wie Korruption, Desorganisation, Mafia, Camorra, Pizza und Mandolino automatisch verbunden wurde. Italiener sprechen auf den Straßen immer zu laut. Natürlich passiert es heutzutage immer noch. Aber es war auch damals, dass ich durch die Augen meiner fremden Freunde und “normaler” Deutschen, auch ein anderes Bild Italiens für das zum ersten Mal erlebt habe. Alle liebten mein Land, meine Muttersprache, Italiens Geschichte, seine ewigen Kunstschätze, das Klima, die Sonne, das Meer, die Küsten, das Essen, die Mode, die saloppe Mentalität (“Ihr Italiener wisst genau, wie man lebt”)….. Na ja, ich glaubte nicht (und glaube auch heute nicht), dass wir Italiener in einer stetigen Dolce Vita à la Fellini leben, aber ich fühlte mich wieder ein bisschen stolz, aus Italien zu kommen. Und das Gefühl habe ich komischerweise eben in Deutschland erlebt, indem ich von Deutschland (und von anderen Kulturen) positive und negative Seiten entdeckte. Kunst, Geschichte und wunderschöne Landschaften hat mir Deutschland seinerseits geschenkt, und gleichzeitig beobachtete ich meine Mitschüler aus aller Welt, mit denen ich so viele Stunden Unterricht und auch Spaß teilte.
Bei langen Gesprächen auf noch unsicherem Deutsch konnte ich z.B. die tiefe Spiritualität der Asiaten, oder den ernsten Glauben der Muslimer schätzen, die jeden Tag ihren Gebeten so viel Zeit widmeten. Griechische, türkische, chinesische Küche habe ich auch in fremden Restaurants gekostet, wo wir abwechselnd zusammen feierten, damit unser Heimweh für alle ein bisschen erträglicher wurde.
Deutschland bedeutete also für mich nicht nur die erste offene Tür zu Europa, sondern auch die direkte Gelegenheit wahrnehmen zu können, wie die Globalisierung uns alle immer schneller änderte.
Als die politischen Grenzen zum ersten Mal im Osten fielen, war ich in Hamburg auf einem Sprachseminar an der Uni, wo die meisten Teilnehmer (Germanistikstudenten und Deutschlehrer) vor allem aus Ungarn, Polen und Russland kamen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie seltsamerweise glücklich und gleichzeitig ratlos, ja sogar erschrocken reagierten, vor diesem epochalen Sprung ins Dunkle. Reich waren sie gar nicht und von der kapitalistischen Welt hatten sie kaum Erfahrung, sie waren aber ausserordentlich gut ausgebildet und rigoros, und vor ihren hohen kulturellen Standards war ich wirklich begeistert.
In Hamburg habe ich ein junges Paar aus Ungarn, Aliz und Csaba, kennengelernt, und seitdem hat eine lange Freundschaft begonnen. Sie haben mich später in Kalabrien besucht und ich war öfter bei ihnen als Gast in Budapest. Unsere Kontakte sind immer noch regelmäßig und lieb. Nun wissen sie dass Kalabrien nicht nur Mafia bedeutet, und durch ihre Briefe und Erzählungen konnte ich in den Jahren indirekt erfahren, wie der Übergang von einem politisch-wirtschaflichen System zum anderen schwer und hart war. Wenn ich an das Budapest der 90er Jahre und an die heutigen Veränderungen denke, wird mir bewusst: Ohne Aliz und Csaba und ohne unsere zufällige Bekanntschaft, hätte ich diese Wende niemals sehen, erleben und daher verstehen können.
Seit damals ist Europa größer, und freier, geworden. Und abgesehen von den noch unvollkommenen politischen und ökonomischen Fortschritten zum Weg einer theoretischen EU der Zukunft, stellt die EU für junge Leute schon heutzutage die konkrete Möglichkeit dar, sich bessere Zukunftschancen zu bilden. Vor allem kann man überallhin reisen, in vielen Ländern mit Euro bezahlen, und (relativ einfach) anderswo in Europa studieren oder Arbeitserfahrungen, Stages, Praktika usw. machen. Aber die Formel “Geh mal und sieh’” “Geh mal und lerne” wird perfekt, nur wenn die praktischen/utilitaristischen Aspekte im Gleichschritt mit Inspiration und mit idealem Elan gehen. Das Projekt “Europa” muss auf eine viel größere Beteiligung und Mitwirkung stützen, damit seine Grundlagen stark, stabil und vor allem dauerhaft bleiben.
Und weitere, neu hinzugekommene Herausforderungen sind noch zu meistern. Nach dem 11. September hat sich die Welt bestimmt geändert, und selbst das Leben in Europa ist wegen Angst und Sicherheitsprobleme schwieriger geworden. An seinem Herzen wurde es mehrmals durch Terroranschläge grausam getroffen. Wir kennen jetzt direkt die Folgen von falschen Eingriffen der “westlichen” Welt in politisch instabile Länder. Eine verzweifelte Massenemigration richtet sich auf unseren Küsten eben in der Hoffnung, dass das Alte Europa die neuen Unglücklichen aufnehmen und schützen kann. Wo sollten sie sonst eine Lebenschance für Rettung und Würde finden ? Aber….wollen alle Europäer wirklich, dass Migranten unsere Türschwellen überschreiten ? Eben an diesem Punkt erhöhen sich die Töne der Populisten jeder Art, und zwischen rechten und linken Parteien sind die Nuancierungen echt schwer zu bemerken. Populismus erregt Verdacht und Ängste gegen Migranten, gegen die vermutlich neuen Barbaren/Feinde. Das alles sieht so unerträglich tragisch und widersprüchlich aus : in Europa, nach den so vielen Anstrengungen zum Weg zu einem Vereinten Europa, von denen wir kaum die Grundlagen gelegt haben, beginnt man wieder von kleinen Nationen, von Protektionismus, von Blöcken und Mauern zu debattieren !
Um die Frage einer faktiven EU-Union zu bewältigen, sollte man lieber extreme Stellungnahmen vermeiden. Leider steht die passende Lösung nicht parat, aber Formeln wie “Wir werden es nie schaffen” oder “ Wie schön, alle Europäer sind so gleich und glücklich” erweisen sich beide falsch und sind von keinem großen Nutzen. Kein stumpfer und enttäuschter Pessimismus hilft, und bestimmt auch kein oberflächlicher, triumphaler Optimismus. Die Einstellungen sollten dagegen ausgeglichen sein. Schon heute zeigen unsere Gesellschaften starke und gemeinsame Wurzeln, die uns miteinander verbinden. Trotzdem müssen unsere Anstrengungen, vor allem die der jungen Generationen, auf der Suche nach immer neueren Kontaktpunkten unter unseren Traditionen und Kulturen gerichtet werden.
Und immer wieder spielen die Familienerziehung, die Schule und die Lehrer, die Freunde, die Bücher und die guten Vorbilder eine wesentliche Rolle, Elemente die um unsere Persönlichkeit einen virtuosen Kreis ziehen und uns den Respekt vor unseren Nächsten oder Nachbarn erbringen. Der einzelne Mensch bleibt der Schwerpunkt und das Maß aller Dinge. Heutzutage tragen die verschiedenen europäischen Schulsysteme zur kulturellen Bildung von Kleinkindern bis zu Teenagern bei : Die vorigen zwei oder drei Generationen hatten dagegen – bestimmt auch aus Unkenntnis und Passivität – unter der Grausamkeit beider Weltkriege gelitten. Die Freiheit, die wie heute in jedem Bereich erleben, bringt die Möglichkeit mit sich, unsere Kenntnisse zu erweitern und immer bewusstere Entscheidungen zu treffen. All das, um bessere Menschen zu werden.
Auf einem höheren Niveau kann die unpersönliche EU-Politik uns natürlich enttäuschen, aber auf einer volkstümlichen und unmittelbaren Ebene entstehen ganz andere Weltanschauungen aus den Eindrücken der Studenten, Arbeiter oder einfachen Touristen, die durch Europa reisen. Wenn man konkreten Leuten begegnet, und Toleranz, Offenheit und Neugier zeigt, hat man am Ende das Gefühl, dass sich vielleicht unsere Unterschiede eher auf diverse alltägliche Sitten und Bräuche gründen, als auf echte kultur-historische Verschiedenheiten.
Wenn auch die Ängste vor dem Anderen/ Fremden nicht völlig besiegt werden können, schafft die wahre Erkenntnis sicherlich auch keine neuen und unvernünftigen Ängste. Im Gegenteil, sie rationalisiert sie, auf der Suche nach der einzigen möglichen Konfliktlösung, d.h. der Dialektik.
Was uns verbindet ist ein ziemlich erfolgreiches Gesellschaftsmodell, das die gesamte westliche Kultur, die Philosophie, die Literatur, die Kunst, Film usw. und auch eine gewisse westliche Denkweise umfasst, und die sich ihrerseits von der afrikanischen oder asiatischen Kultur sehr deutlich unterscheidet. Das bemerkt man komischerweise besonders, wenn wir außerhalb des Kontinenten Europas sind und vielleicht unbewusst endlich das Gemeinschaftsgefühl als Europäer empfinden. Welchen praktischen Sinn würde es also geben, wenn man die Unterschiede unter den EU-Mitgliedsstaaten durch eine extrafeine Lupe beobachten wollte? Und wie wär’s dann, mit den Unterschieden zwischen Amerika und Australien, Kanada und England? Und mit denen zwischen Nationalsprachen und Dialekten, Metropolen und Kleinstädten, Frauen und Männern, dicken und schlanken Leuten? Die Liste der Paradoxen würde kein Ende haben….
Mit richtigem Stolz, sich Italiener oder Deutscher zu fühlen, haben Nationalismen natürlich nichts zu tun, aber sie werden leider noch länger da bleiben. In einigen Ländern, in denen kürzlich gewählt wurde, wurden ihre beliebtesten Leader glücklicherweise besiegt, obwohl sie lt. Zeitungsumfragen als wahrscheinliche Gewinner galten. Das grösste Glück ist aber, abgesehen von guten oder schlechten Politikern, dass unsere politischen Vertretungen (nunmehr überall in Europa) aus demokratischen Wahlen entstehen. Die älteren Generationen vergessen nicht, aber für die jüngeren ist die Demokratie selbstverständlich, selbst bei unseren ex-kommunistischen Nachbarn. So scheint die Geschichte auch nicht auf den ersten Plätzen der Top-Wünschliste der jungen Leute zu stehen. Aber ist nun es wirklich so? Stimmt es, dass die Demokratie für sie so selbstverständlich ist und die Geschichte unbedeutend ? Am Ende ist mit Recht zu vermuten, dass auch viele Jugendlichen mit ihren Stimmen dazu beigetragen haben, anti-europäistische und potentiell fremdenfeindliche Parteien zu blockieren.
“Rom wurde nicht an einem Tag erbaut”, und dasselbe gilt auch für eine wahre Mitgestaltung der EU, insbesondere angesichts der zukünftigen Herausforderungen. Das offizielle Motto “Einheit in Vielfalt” könnte – nach einfachem Menschenverstand – an das klassische Wasserglas denken lassen, das einige als halbvoll betrachten und andere als halbleer…..Euroskeptizismus und Populismen, und günstigere oder weniger günstige ökonomische Perspektiven in den EU-Ländern werden alles komplizierter machen. Institutionelle und private Anstrengungen müssen sich eben auf jene gemeinsamen Ziele richten, die die verschiedenen Gesellschaften aus dem EU-Raum für den menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Wohlstand ihrer Bürger am wichtigsten und dringendsten wünschen.
Bei der Vermeidung neuer Weltkonflikten und Rassenvernichtungen haben wir unbestritten Erfolg gehabt, aber neue und wichtige Errungenschaften sind im Moment misslungen, uns fehlt es z.B. eine Europäische Konstitution. Vermutlich ist noch nicht ganz klar, was wir in 50-100 Jahren könnten oder möchten werden, jedoch führt uns die Europäische Menschenrechtscharta schon heute auf den richtigen Weg, den wir auf keinem Fall verfehlen müssten.
Autor: Irene del Pozzo